Das choreographische Regime Covid-19

In Choreomacht by gerkoegert

Bewegungsanweisungen im Einkaufszentrum

Ich habe in den letzten Tagen und Wochen viel gelernt: Über Zahlen und deren Verlaufskurven, über Infizierungsraten und den Unterschied von FFP 1, FFP 2 und FFP 3 Atemschutzmasken. Ich habe gelernt, dass mein Wohnzimmer ein Büro, eine Kneipe, ein Club und ein Theater sein kann, und dass ich dafür nur verschiedene Chatkanäle brauche. Und ich habe gelernt, dass mein Körper nicht dort aufhört, wo ich es – zumindest in meinem alltäglichen Handeln – die meiste Zeit angenommen hatte, nämlich nicht an meiner Haut, sondern 1,5 Meter davor (zumindest, wenn wir von den national durchaus variierenden Mindestkontaktabständen ausgehen). Wir leben – nicht nur zurzeit – mit und in einer Luftbewegungswolke, die aus Flugbahnen von Tröpfchen besteht, durch unser Atmen ständig in Bewegung gehalten wird und sich durch Husten (aber auch durch vielzählige andere Bewegungen) schlagartig vergrößern kann. Und das ist gefährlich.

Meist sind mir die Ausmaße meines Luftbewegungskörpers – auch in diesen Tagen – egal, ja sie würde mich sogar im Umgang mit meiner Umwelt stark behindern. Um mich auf einen Stuhl zu setzen, ist es gut, wenn ich mich nach meinen gewohnten Körpermaßen und Bewegungen richte. Auch das Öffnen einer Tür ist nur durch meine habitualisierten Hangriffe und das Wissen um die Begrenzung meiner Gliedmaßen durch die Haut möglich. Ganz anders sieht es jetzt jedoch im Kontakt mit Menschen aus: Beim Spazierengehen und Einkaufen achte ich genau auf meinen neuen Körper, verschiebe die Vorstellungen meiner Bewegungen, versuche Luft- und Atemströme miteinzubeziehen und verlasse mich der Einfachheit halber auf die vorgegebenen 1,5 Meter Abstand. SARS-CoV-2 – so könnte man sagen – ist in meine Wahrnehmung wie auch meine Bewegungen gedrungen. Die Ausbreitung des Virus choreographiert meine Bewegungen. 1Wenn jemand – sei es aufgrund einer engen Kreuzung, oder eines schmalen Gangs im Supermarkt – in meine Bewegungswolke eindringt, diese unmerklich durcheinanderwirbelt, versuche ich auszuweichen, den Eindringling aus meinem Bewegungskörper zu entfernen, die Wirbel wieder zu kontrollieren. Dass ich bei dieser Unternehmung selten erfolgreich bin liegt u.a. daran, dass ich die uns alle umgebenen Luftbewegungen – erzeugt durch Wind, Wärme, andere Menschen, etc. – unbeachtet lasse. Ihre schier unglaubliche Komplexität macht mir die Kontrolle über meinen neuen Körper unmöglich: Jede noch so kleine Bewegung erzeugt neue Luftströmungen, die mit anderen interferiert. Ein Feld unzähliger clinamen (Lukrez) entsteht, das weder in seinen Verläufen noch in seinen Ausdehnungen zu kontrollieren ist. Mein Körper ist zu einem Aero-Körper geworden. Ein Körper der Zirkulationen, von dem lediglich ein Teil sichtbar ist, der bei weitem nicht die Vielzahl der Bewegungen und Zirkulationen umfasst. Und am Ende achte ich im Supermarkt wieder nur auf die vorgegebenen 1,5 Meter, um mich nicht in Wirbeln und ihren Verlaufsfunktionen zu verlieren.

Covid-19 prägt – und das klingt so offensichtlich wie es ist – unsere alltäglichen Bewegungen. Dies liegt an den ebenso banalen Feststellungen, dass Kontakt (zumindest der Kontakt, um den es hier wie auch in den zahlreichen Regelungen des Staates zur Kontaktbeschränkung geht) ohne Bewegung nicht möglich ist. Wir nähern uns an, wir entfernen uns, und wir durchkreuzen uns mit unseren Bewegungskörpern ständig (gerade etwas weniger). 

Dass es bei der Eindämmung der Covid-19 Pandemie um menschlichen körperlichen Kontakt als die wohl wirksamste Infrastruktur des Virus SARS-CoV-2 geht, und dass dieser durch Bewegung eingedämmt werden kann, scheint sich auf gleich dreifache, wenn auch teils widersprüchliche Weise durchzusetzen. 1. In den Ausgangsbeschränkungen, wie sie in Deutschland vielerorts zurzeit (7.4.2020) wirksam sind. 2. In der Diskussion über die Auswertung von Bewegungsdaten und 3. In der Diskussion, um die Wiederherstellung von Bewegungsmöglichkeiten, damit Wirtschaft nicht ‚gänzlich zusammenbricht‘. Punkt zwei und drei befinden sich dabei (noch) auf der Ebene der Diskussion.

Die Politik der Bewegungsbeschränkung mittels Ausgangsbeschränkungen wurde in Deutschland vielerorts eingeführt. Obwohl die Richtlinien der Bundesregierung eine Kontakteinschränkung zur Übertragung von Viren vorsahen, nahmen dies zahlreiche Politiker*innen zum Anlass, weniger den Moment des Kontakts, als die damit (vermeintlich) verbundenen Bewegungen zu reglementieren. Statt des Kontakts wird die Bewegung eingeschränkt. Sie macht den Kontakt unvorhersehbar, sie scheint gefährlich zu sein. Sie ist umfangreicher und leichter zu kontrollieren als die „nur“ momenthaft stattfindenden Kontaktereignisse. Bewegung ist der Modus der Regulation. Zwar ist Kontakt nur mit Bewegung möglich, doch werden ebenso zahlreiche Bewegungen verboten, die gar nicht zum Kontakt geführt hätten. Es ist eine choreographische Politik, die der Staat hier implementiert, eine Politik, die vor allem über die Beschränkung und das Verbot von Bewegungen operiert, und die sich damit in einer lange Reihe von Abschirmungspolitiken 2 einreiht, wie sie seit dem Mittelalter immer wieder Verwendung fanden. 

Die zweite Politik ist neuer und vielleicht sogar so neu, dass es zumindest der deutschen Regierung schwerer fällt, diese einzusetzen: die Überwachung von Bewegungen mittels der Kontrolle von Bewegungsmustern. Dass die Bewegungen von Smartphones seit langem ausgewertet werden, weiß jede*r, die sich mal gefragt hat, wie Google Maps in Echtzeit Staus anzeigen kann. Und so verwundert es auch nicht, dass Google nun innerhalb kurzer Zeit weltweite Statistiken zum Verlauf von Bewegungsaufkommen bereitstellen konnte. 

Doch auch bei der Pandemiebekämpfung mittels Bewegungskontrolle wird Bewegung mit Kontakt verwechselt: Warum müssen so umfangreiche Bewegungsdaten generiert, gespeichert, kontrolliert und ausgewertet werden, wenn es doch um den Kontakt einzelner Menschen geht? Johannes Abeler, Matthias Bäcker und Ulf Buermeyer haben dagegen ein System vorgeschlagen, das gerade nicht von der Bewegung, sondern vom Kontakt ausgeht und damit nicht auf der zentralen Speicherung standortbezogener Daten, sondern auf dezentralen Kontaktereignissen (zwei Mobilfunkgeräte befinden sich nahe beieinander) basiert.3 Aber auch hier scheint das Interesse der Regierung an der Stärkung einer neuen choreographischen Politik – jener der Kontrolle (statt des Verbots) von Bewegung – groß zu sein. Wenn Bewegungsprofile nicht nur ausgewertet, sondern gleich für jeden online einsehbar gemacht werden, fungieren Litauen und Südkorea  als Vorbilder.

Die dritte Bewegungspolitik, die gerade zur Diskussion steht, ist jene, die vor allem möglichst schnell jene Bewegungsfreiheiten zurückgewinnen will, die die Zirkulationen der Wirtschaft wieder in Gang bringen. Auch sie richtet sich vor allem gegen ein Verbot von Bewegungen und lässt sich am ehesten mit der Politik des Neoliberalismus beschreiben. Anders als in der großflächigen Kontrolle (bzw.: Hand in Hand mit dieser) geht es dabei – wie Foucault in einem berühmten Zitat formuliert – „darum, die Zirkulation zu organisieren, das, was daran gefährlich war, zu eliminieren, eine Aufteilung zwischen guter und schlechter Zirkulation vorzunehmen und, indem man die schlechte Zirkulation verminderte, die gute zu maximieren.“ 4 Diese Logik findet sich vor allem in den Äußerungen jener wieder, die eine Trennung von arbeitender Bevölkerung (gute Zirkulation) und Risikogruppen (schlechte Zirkulation) befürworten und so ein choreographisches Management der Bewegungsmöglichkeiten etablieren will, das allein ihrem höchstes Ideal, dem aus der Logistik bekannten reibungslosen flow folgt.

Allen drei Politiken wohnt ein je spezifisches „choreographisches Regime“ 5 inne: Bewegungen stoppen, kontrollieren, oder managen. Alle drei Regime waren auch vor der Covid-19 Pandemie am Werk und haben seit langem unsere Bewegungen regiert. Doch selten standen sie in einem Feld so direkter Aushandlungen. Indem die Bewegung des menschlichen Körpers zur Infrastruktur jener globalen Zirkulation der Viren selbst geworden ist, und der Moment des Körperkontakts zu dessen bedeutendster Schaltstelle, die es zu unterbrechen und regulieren gilt, hat sich eine Biopolitik durchgesetzt, die sich – um einen Begriff von Fred Moten und Stefano Harney aufzugreifen – auf eine „logistische Bevölkerung“ richtet. 6

Und so habe ich noch etwas in den letzten Tagen hinzugelernt: Dass der Körper sich in den  Covid-19 Politiken nicht einfach nur um 1,5 Meter in jede Richtung ausgedehnt hat, sondern selbst zu einem Luftbewegungsfeld geworden ist. Dies ist jedoch nicht das Zusammenspiel freier Strudel, vielmehr sind die Bewegungen durchzogen von einer choreographischen/logistischen Politik der Bevölkerungsregulation. In der aktuellen Situation sind diese Aero-Körper – ihre Bewegungen und Möglichkeiten zum Kontakt – zugleich Ziel und Werkzeug des choreographischen Regime Covid-19.

[Der Beitrag ist zuerst am 14.4.2020 auf dem Triakontameron Blog erschienen. Eine Übersetzung ins Katalanische ist in der Zeitschrift (Pausa.) erschienen.]

Fussnoten

  1. Gia Kourlas, Tanzkritikerin der NY Times, hat die choreographische Dimension der Chorvid19 Pandemie wie folgt beschrieben: „We are in this together, and movement has morals and consequences — its own choreographic score, or set of instructions — in this age of the coronavirus.“ (Gia Kourlas: How we Use our Bodies to Navigate a Pandemic
  2. Vgl. hierzu beispielsweise die Ausführungen von Michel Foucault, zu den von der Pest geplagten Städten im Mittelalter und ihre Politik der Abschottung, der Ausgehverbote und damit der rigiden Bewegungseinschränkung. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977.
  3. Ulf Buermeyer, Johannes Abeler und Matthias Bäcker: „Corona-Tracking & Datenschutz: kein notwendiger Widerspruch“, auf: Netzpolitik.org
  4. Michel Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 37
  5.  Das Konzept des „choreographischen Regimes“ beschreibt eine auf Bewegung gerichtete und zugleich mittels Bewegung operierende Politik. Choreographie wird dabei nicht im Sinne tänzerischer Bewegungsproduktion, sondern als Machttechnik der Bewegung, als „Choreomacht“ verstanden. Vgl: https://gerkoegert.com/choreopower
  6. Stefano Harney und Fred Moten: Die Undercommons. Flüchtige Planung und schwarzes Studium. Übers. v. Birgit Mennel und Gerald Raunig. Wien u.a.: Transversal 2016, S.107